Die Sehn-Sucht der Magersucht und Bulimie

Vermittlerin zwischen den entfremdeten Eltern
Vermittlerin zwischen den entfremdeten Eltern

Magersucht und Bulimie – eine Folge unseres Schönheitsideals, bei dem Schönheit Erfolg symbolisiert und Schlanksein für Leistung und die Lösung aller Lebensprobleme steht? Oder womöglich nur eine Marotte überspannter Mädchen², die lediglich zur Einsicht kommen und einfach etwas essen müssten, um wieder gesund zu sein?

Der eigene Körper und das Essen beherrschen jeden Gedanken der Kranken. Es gibt Zeiten, in denen sie sich stark und sicher fühlen, als etwas Besonderes, bis hin zur asketischen Elite.  Und es gibt Zeiten, in denen ihnen bewusst ist, dass Hungern leichter ist als Leben. Und es gibt Zeiten, in denen sie spüren, dass sie Hunger nach Leben haben, ihnen aber nicht klar ist, wie sie dieses Bedürfnis stillen könnten, und danach schnell wieder herausfallen aus diesem kurzen Moment der bewussten Körperwahrnehmung.

 

 

Es gibt nur einen Weg für alle Beteiligten: mutig hinzuschauen:

  • Welche Botschaft steckt hinter der Selbstkasteiung?
  • Wonach sucht die Süchtige?
  • Welcher Machtkampf wird hier in Wahrheit ausgefochten?

 

Magersucht ist nicht nur der Kampf gegen das eigene Gewicht. Es ist vor allem der Kampf um die Macht über sich selbst. Denn es ist ein Akt des Willens, Nahrung zu verweigern. Es ist der Kampf gegen Leere und damit ein Schutz vor qualvoller Einsamkeit. Es ist der Kampf gegen innere Not und ängstliche Sorgen und damit der Schutz dem eigenen Leben eigenverantwortlich begegnen zu müssen. Es ist eingesperrte Kraft durch Erstarrung und unterdrückte Lebenslust, es ist stille Rebellion, die der Magersüchtigen Macht gibt über Eltern und Therapeuten. Solange eine Krankheit aber Macht gibt und Schutz bietet, profitiert die Leidende noch zu sehr von der Krankheit, um sie loslassen zu können.

Magersucht ist ein Ringen zwischen Leben und Tod.

 

Die Krankheitsgeschichten beginnen äußerlich betrachtet oft mit Diäten, nachdem Schulkameradinnen Bemerkungen hinsichtlich des Körpers gemacht haben. Immer geht es um Bewertungen und Vergleiche. Und im weiteren Verlauf der Krankheit wird die Waage zum erbarmungslosen Richter über Richtig und Falsch, über Gut und Böse, über Leistung und Versagen. Die Bauchform und die Grammzahl, die im eigenen Sinne gedeuteten Blicke und Bemerkungen der Klassenkameradinnen  bestimmten über den Selbstwert.

 

 

Wir leben auf der Erde in der Dualität. Alles hat zwei Pole. Unsere Aufgabe ist es, den Weg heraus zu finden aus der Bewertung. Hinein in die Erkenntnis, dass es kein Richtig und Falsch gibt, keine Schuld, sondern dass wir alle nur Erfahrungen machen wollen. Diese Sichtweise führt uns weg von der Hilflosigkeit und Verzweiflung der Magersüchtigen gegenüber und zeigt uns den Weg, wie wir den Sinn hinter dieser Krankheit finden.

 

 

Denn die Magersucht ist oft ein Kampf, der nur stellvertretend geführt wird für ein noch ungelöstes Thema in der Familie. Äußerlich betrachtet sind diese Familien ganz normale Familien. Völlig undramatisch und geprägt von Pflicht, Anstand, Leistung, Bildung und Harmonie. Innerlich angeschaut offenbaren sich verletzte Seelen und Dynamiken, die nach einer guten Ordnung rufen. Im Folgenden möchte ich einige mögliche Konstellationen aus Familienaufstellungen erläutern, die das innere Bild betroffener Familie aufzeigen. Bereits das Lesen dieser Beispiele kann erste Heilungsansätze bringen durch Erkennen.

 

Macht über die Eltern und die Schwester
Macht über die Eltern und die Schwester

Viele Magersüchtige waren vor ihrer Erkrankung pflegeleichte Vorzeigekinder. Fleißig. Bescheiden. Sensibel. Angepasst. Sie wurden (und werden vielleicht immer noch) nicht als Individuen gesehen und anerkannt mit eigener Persönlichkeit und eigenen Rechten, sondern vor allem deswegen geschätzt, weil sie das Leben der Eltern bereichern und zufriedenstellender machen sollen. „Wenn du so bist und dich so verhältst, dann bist Du meine brave Tochter. Dann habe ich dich lieb“. Mit der Pubertät fühlen die Kinder dann die Überforderung und projizieren ihre Ohnmacht nicht nach Außen, sondern nach Innen. Auf ihren Körper, der als einziges ihnen ganz alleine gehört. Nur im Hungern können diese Kinder sich selbst und ihre Macht spüren.

Sie können erstmals selber kontrollieren, wo doch sonst nur sie dahingehend kontrolliert werden, so zu sein, wie die Eltern sie haben und sehen möchten.

 

 

„Ich habe für meine Tochter immer alles getan.“ Wenn aber Eltern alle Entscheidungen für ihre Kinder treffen, statt sie ihre eigenen Erfahrungen machen zu lassen, dann kann das Selbstwertgefühl stark verkümmern. Nicht umsonst wird Magersucht auch als die „Sucht der Braven“ bezeichnet.

 

 

Es gibt Fälle, bei denen die Mütter aggressiv fürsorglich waren, insbesondere während den ersten 15 Monaten. Aus dem Über-Gedanken der Eltern heraus „jetzt muss das Kind doch Hunger haben“ , kann sich nicht das Gefühl entwickeln, Herr im eigenen Körper zu sein. Mit der Magersucht wird genau dieses Gefühl herbeigesehnt und gesucht. Es ist der Kampf um Selbstkontrolle und Identität.

 

 

Heilung kann in diesen Fällen unter anderem durch die Arbeit mit dem inneren Kind entstehen. Es geht darum, dem inneren Kind, deutlich zu machen, dass es das Bestmögliche getan hat, ihm jegliches Schuldgefühl zu nehmen, es an einen guten Ort zu bringen und in die Persönlichkeit zu integrieren. (Auszug aus lösenden Sätzen): „Du bist mein inneres Kind. Und ich sehe dich jetzt. Es tut mir leid. Es war nicht in Ordnung. Und es war zu viel für dich. Du hast dich weit zurückgezogen. Es ging nicht anders. Ich bin jetzt groß und ich bin jetzt da für dich.“

 

Oft wird über die Väter gesagt, dass sie emotional nicht vorhanden seien. Es kann bei der Magersucht um eine unbewusste Suche nach Anerkennung durch den Vater gehen. In Familienaufstellungen zeigt sich als weiterer Grund beispielsweise, dass sich der Vater aus der Familie herauszieht, weil er unbewusst einem zu früh verstorbenem Mitglied der Familie folgt. Unbewusst spürt die Tochter diese völlig unbewusste Todessehnsucht des Vaters und sagt mit ihrer Magersucht „Lieber verschwinde ich als du, Papa.“ Heilung erfolgt durch klärende Sätze, die das Unbewusste bewusst machen. (Auszug aus  lösenden Sätzen): „Ich bin … Und Du bist …, mein Vater. Ich habe deine Sehn-Sucht immer gespürt. Und ich habe sie für dich getragen. Das habe ich gerne getan. Ich habe dich immer ein bisschen vermisst.  Ich dachte, ich könnte dir so nahe sein. Jetzt sehe ich, dass das so nicht geht. Und ich gebe dir die Last jetzt hiermit zurück. Bitte bleibe und segne mich. Und ich entscheide mich jetzt auch zu bleiben. Und ich bleibe auch bei Dir, Mama. Danke.“

 

Für jemanden, der gleichzeitig leben und sterben will, kann die Aufdeckung einer derartigen Dynamik der Schlüssel sein auf dem Weg zur bewussten Entscheidung, „ich will bleiben – also esse ich“.

 

In der Verantwortung für einen schwachen Vater und eine überstarke Mutter
In der Verantwortung für einen schwachen Vater und eine überstarke Mutter

Sehr häufig ist ein Wechsel von der Magersucht zur Bulimie zu beobachten. Bulimie ist ein überdurchschnittliches Bedürfnis zu essen, das mit anschließend absichtlich herbeigeführtem Erbrechen verbunden ist. Hier isst die Magersüchtige, um zu leben und erbricht, um zu sterben.Die Dynamik der Bulimie kann sein, dass die Mutter der dominante Part in der Familie ist und der Vater wenig zählt. In bulimischen Familien isst das Kind aus Treue und Liebe zur Mutter und erbricht anschließend aus Treue und Liebe zum Vater. Ein lösender Satz zur Mutter könnte sein „Mein Vater ist mir genauso wichtig wie du es mir bist“. Als heilsam hat sich auch erwiesen, die Essanfälle zu verlangsamen und in großer Achtsamkeit zu sein. Dazu wird das Essen teelöffelweise portioniert und jeder Bissen in dem Bewusstsein geschluckt, dass man sich erlaubt, es vom - zu Recht - geliebten Vater zu erhalten.

 

Die hier aufgeführten Beispiele zeigen einen Weg auf, den Sinn von Magersucht und Bulimie zu verstehen. Sie können Schlüssel sein für den Weg hin zur Selbstliebe, zur Achtung der Eltern und hin zum Frieden mit den Eltern und damit letztendlich zum inneren Frieden.

Ich bin wichtig.

  Ich bin wertvoll.

Ich nähre mich.

Wenn wir beginnen, unsere Verletzungen zu verstehen und anzuerkennen, nehmen wir auch uns selbst wichtig. Eine nicht so einfache Kindheit ist genau das Trainingslager, durch das wir uns entwickeln können. Alles darf da sein und zwar genau so wie es war. Jeder tut so gut wie er kann. Und Eltern können nur das weitergeben, was sie selbst erhalten haben. Mehr war nicht möglich aufgrund eigener Mängel, Begrenzungen und Lasten, die sie vielleicht für andere auch immer noch tragen. Und es war gut genug, weil Sie überlebt haben und jetzt diese Zeilen lesen. Die weitere Verantwortung für Ihr Leben liegt nun bei Ihnen, nicht mehr bei Ihren Eltern.

 

 

Dieser Beitrag fußt auf eigenem Erleben, aus Gesprächen mit Betroffenen, aus dem Erleben mit Klienten in meiner eigenen Praxis sowie aus dem Studium der Aufstellungs-Literatur. Sehr gerne helfe ich Ihnen dabei, den Sinn hinter Ihrer Krankheit zu verstehen, die vorhandene Liebe zu den Eltern und sich selbst zu entdecken, Dank für das Erhaltene zu spüren und ins eigene Leben zu gehen. Und selbstverständlich stehe ich auch Ihnen als Eltern hilfreich zur Seite und begleite Sie und Ihr Kind auf dem gemeinsamen Weg.

 

 

Mädchen² = in diesem Beitrag beziehe ich mich auf das weibliche Geschlecht, weil sie zu einen Großteil betroffen sind. Selbstverständlich gibt es auch Jungs, die unter Magersucht und Bulimie leiden. Für sie gelten die obigen Ausführungen gleichermaßen.

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Kommentare: 2
  • #1

    Frauke Kuchenbecker (Donnerstag, 14 September 2017 14:17)

    Zu dem obigen Artikel möchte ich noch folgendes hinzufügen. Ja, die Magersucht ist definitif ein Machtkampf, aber ich denke es ist vor allem auch ein Machtkampf mit den Eltern. Beim Verweigern des Essens haben die Eltern keine Macht über das Kind, sie müssen leider mit ansehen, wie ihr Kind sich langsam zu Tode hungert. Deshalb ist es wichtig, dass die Eltern dies erkennen und Ihre Kinder loslassen. Natürlich ist es schwer und unendlich schmerzhaft zu zuschauen, wir das eigene Kind sich zu Grunde richtet, deshalb empfehle ich den betroffenen Eltern sich in einer Selbsthilfegruppe oder bei einem Therapeuten Hilfe zu holen, denn sie sind immer die Coabhängigen und stehen genauso im Familiensystem, wie das Kind.

  • #2

    Christiane Spindler (Sonntag, 01 Oktober 2017 08:29)

    Liebe Frauke, danke für Deinen wertvollen Kommentar zu diesem Artikel. Ich möchte gerne an dieser Stelle unser Gespräch zusammenfassen, das wir im Nachgang geführt haben: Im ersten Schritt müssen sich betroffene Eltern tatsächlich bewusst werden, dass sie Co-Abhängige sind. Nur dadurch, dass man lernt, eine Beobachter-Rolle einzunehmen und anzunehmen was ist, wird es überhaupt möglich, sich nicht auf dieses Machtspiel einzulassen. Es ist ein schleichender Übergang von der Idee, ein paar Kilogramm abzunehmen, um sich und anderen mehr zu gefallen, über die Bestätigung, dass man ja so gut aussieht, hin zum Abgleiten hinein in die Sucht. Genau hier sind die Eltern gefragt, mit viel Fingerspitzengefühl diesen Zeitpunkt wahrzunehmen und diesen auch klar und deutlich anzusprechen. Neutrale Kommunikation, frei von eigenen Emotionen, ist wesentlich. Kennen Sie die Baumübung? Bevor Sie ins Gespräch gehen, visualisieren Sie sich selbst als einen Baum. Sie spüren die Wurzeln, die Sie in den Boden schlagen und nehmen die Kraft von Mutter Erde auf. Sie spüren den Wind, der Ihre Baumkrone sanft hin und her bewegt und nehmen die Kraft auf der geistigen Welt. So angebunden sind Sie zentriert und es fällt Ihnen deutlich leichter, nicht in eigene Emotionen abzugleiten, sondern neutral und beobachtend zu bleiben.